“Ich habe nicht vergessen, ich will nicht vergessen.”

Im richtigen Kontext würde die Frage "Wo kommst du her?" mehr Verbindung als Ausgrenzung schaffen, so empfindet die deutsch-ägyptische Poetin und Sozialwissenschaftlerin Anja Saleh.

Text & Gedicht: Anja Saleh

“Entstanden ist das Gedicht beim Gedanken an die fast täglich wiederkehrende Frage “Wo kommst du her?”. Eine Frage die mir am häufigsten in dem Land, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin, gestellt wird. Eine Frage die mir jedes Mal aufs Neue signalisieren soll ” Du kannst nicht von hier sein”, eine Frage die mich und viele wie mich ausschließt aus dem “Wir” und aus dem “Hier”. “Wo kommst du her” wird negativ konnotiert, ganz gleich wie die Frage von der fragestellenden Person gemeint ist, sie impliziert ein nicht Dazugehören, ein vermeintliches Anderssein. Es ist jedoch eine Frage, die mir so auch in Kontexten von diasporischen Communities gestellt wird und im Heimatland meiner Eltern aber eine ganz andere Bedeutung annimmt. In besagten Kontexten wird die Frage nicht gestellt, um dein Außenseitersein zu begründen, sondern um nach gemeinsamer Biografie zu suchen. Man tauscht sich gemeinsam über eigene Wurzeln und kollektive Verteilung aus, darüber, dass man dennoch eins bleibt und ist, darüber, dass man ähnliche Erinnerungen und Schmerzen teilt. Oftmals auch wenn man nicht aus derselben Ecke kommt, jedoch ähnliche Wärme ausstrahlt. Ein Lächeln, ein Kleidungsstück, das Schimmern der Haut, die Haare – man sucht nach Vertrautem und wenn man dieses faktisch nicht findet, hat die Frage “Wo kommst du her?” diese dennoch geschaffen und verbindet mehr als sie ausgrenzt. Ich will die Schönheit der Frage nicht überschatten lassen von der Hässlichkeit selbiger Frage aus anderen Mündern.”

Anja Saleh, Berlin 2019 (Foto: Joanna Legid)

Erinnerungen meiner Mutter. Biografie

von Anja Saleh
 
Wo kommst du her war für uns eher eine Frage des Vertrautseins, als der Ausgrenzung.
Ich habe nicht vergessen, ich weigere mich zu vergessen.
 

3ammos und Khalas*, die immer noch fragen “Wo kommst du her, Tochter/Schwester/mein Mädchen“,
eine verbale Vertrautheit schaffend, bevor eine eigentlich festgestellt werden kann.  

Ya benti (mein Mädchen, meine Tochter), wo kommst du her?

Khala, 3ammo, tant*
Aus einem Ort, an dem der Fluss fließt, Orangen wachsen, Wassermelonen den
Terrassenboden berühren um sie aufzubrechen, bevor sie von hungrigen Münder
verschlungen werden können.
Aus einem Ort, an dem sich jeder für jeden verantwortlich fühlt und wir uns
umeinander kümmern und wir alle uns um unsere Bäume kümmern.

Aus einem Ort, an dem unser Intellekt uns daran erinnert, uns unserer Natur anzupassen –
ah SoubhanAllah – unsere Natur!
Statt sie dazu zu bringen
Sich zu verbeugen und verbiegen
um unsere Gier zu befriedigen 

Aus einem Ort, an dem jeder Magen
Mit der Ernte einer Familie gefüllt wird.
Aber ich befürchte, dass heute
Viele von uns hungrig sind.
Ich wurde diesem Ort entnommen, wie ein Saatkorn seiner Erde, wie eine unreife Mango,
die dafür kämpft, so zu sein, wie die, die auf natürlichem Wege vom Baum gefallen
– gefüllt mit Saft und oh so süß.

aber sie nennen mich importiert
Aber Khala, 3ammo, Tant,
Wo, sag mir, wo kommst du her? Ist dir der Geruch von Orangenbäume vertraut?
Ist der Saft der Wassermelone Teil deines Blutes? Erhellen Mangos deinen Garten?
Ist Zusammenhalt Teil deiner Erinnerung?
Wo kommst du her, bist du mein Blut? 
 

(original)

mamas memories. biography
 

where are you from used to be a question of familiarity instead of alienation for us.
I haven’t forgotten, I refuse to forget.

3ammos and khalas still asking me “where are you from, daughter/ sister/ my girl“, creating
verbal familiarity before an actual can be found.

ya benti (my girl/ my daughter), where are you from?
khala, 3ammo, tant
from where the river flows, oranges grow, watermelon touches the terrace ground to be
broken open before it can be devoured by hungry mouths.
from where mangoes are pretty and small, their scent beautifying any yard.
and oh the sweetness ya khala, ya 3ammo, ya tant!
from where everyone is everyone’s responsibility and we care for each other and each of us cares for our trees.

from where our intellect informs us to adjust to our nature – ah SoubhanAllah – our nature!
instead of making it
bend and bow to meet our greed.
from where every stomach is filled
with what one family reaps. but I fear that today
many of us go hungry.
I was plucked from this home like a seed from its soil, like an unripe mango fighting to be
like those who naturally fell off the tree
– heavy with juice and oh so sweet.
but imported, they call me.

but khala, 3ammo, tant,
where, tell me where are you from?
is the scent of orange trees familiar to you? the juice of
watermelon part of your blood?
mangoes lighting up your backyard?
the care for each other a memory to you?
where are you from, do you happen to be my blood?

 

(*3ammo heißt “Onkel” die 3 steht für den glottalen Laut im Arabischen. Khala bedeutet “Tante” und Tant auch – jedoch werden Khala und Tant in verschiedenen Kontexten verwendet bzw. an Frauen verschiedenen Alters adressiert.)

Über die Autorin Anja Saleh