Text: Amina Aziz
Biografien wie meine gibt es viele. Doch Geschichten wie meine werden kaum erzählt. Meist sind es die Geschichten von Menschen, die es irgendwie „geschafft“ haben. Geschafft haben, ein bürgerliches Leben zu führen – „trotz allem“. Diese Migranten- oder Geflüchtetenbiografien von Menschen, die es nicht leicht hatten, jetzt aber mit beiden Beinen vollends integriert und in der Gesellschaft angekommen sind, gibt es zuhauf. Vorzeige-Kanaken. Als Vorzeige-Kanake benutzt du dieses Wort natürlich nicht in einem Artikel, den du schreibst, weil sich das nicht gehört, wenn du nicht Lady Bitch Ray bist.
Ich bin 14 Jahre lang mit meiner alleinerziehenden Mutter, mal jede Woche, mal jeden Monat, nachts um zwei losgefahren, um um drei Uhr morgens bei der Ausländerbehörde anzukommen. Weil sie früh drankommen musste, um danach arbeiten gehen zu können. Irgendwann hatten wir dann die unbefristete Aufenthaltserlaubnis und konnten den deutschen Pass beantragen. Ja richtig, hier fehlt ein Teil der Erzählung, nämlich der der Schikane, der Securities, der Erniedrigung, die vor allem meine Mutter, 14 Jahre lang, in dieser Behörde, über sich ergehen lassen musste.
Ich erzähle das normalerweise nicht, weil ich keinen Bock auf die mitleidigen Blicke von Weißen habe. Das ist einfach Teil der Biografie von vielen Menschen hier in Deutschland und passiert nicht nur in Ausländerbehörden, aber vor allem dort. Ähnliches geschieht am Arbeitsplatz, in Unis, beim Einkaufen, beim Arzt, eigentlich überall. Das zu erzählen bedeutet nicht, sich als Opfer darzustellen, das sind wir nicht. Es bedeutet, sichtbar zu machen, wie der Alltag vieler BIPoC in Deutschland aussieht. Ihre bloße Existenz in diesem Land zwingt viele zu einem Kampf, der tagtäglich geführt werden muss. Ich kann nicht für alle sprechen, daher schreibe ich das nicht stellvertretend für Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, ihre Geschichte aufzuschreiben, einen Podcast zu machen oder Bücher zu schreiben. Ich schreibe das, um zu betonen, dass auch sie ihren Platz in dieser Gesellschaft verdient haben, unabhängig davon ob und was sie geleistet haben. Es sind diejenigen, die mir und anderen den Weg geebnet haben, zu studieren, Jobs nachzugehen bei denen unser Name unter einem Text steht und wir so sichtbar sind, wie sie nie sein werden. Meine Mutter hat sich kaputt geschuftet, damit ich es nicht machen muss.

Ich genieße das Privileg, nach meiner Geschichte gefragt zu werden und sie erzählen zu können. Ich genieße auch das Privileg, Kapazitäten für Social Media zu haben. Auf Twitter kann man seine Gedanken sehr gut loswerden. Es ist eher niedrigschwellig, sich einen Twitter-Account zuzulegen. Vor einigen Jahren noch war Twitter ein sehr trostloser Ort voller weiß-deutscher Journalist*innen, die die Diskurse in einem extrem anstrengenden Besserwisser-Duktus dominierten und hätte ich das Medium für die Arbeit nicht nutzen müssen, ich hätte es gelöscht, wie meinen Facebook-Account.
Doch plötzlich stieß ich auf Accounts, bei denen die Menschen dahinter so redeten wie ich privat mit meinen Freund*innen rede, die ähnliche Ansichten hatten wie ich, die mich zum Lachen brachten, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie ich und die gegenüber anderen von Diskriminierung betroffenen Menschen, Empathie zeigten. Es machte Spaß zu beobachten, wie Memes ausgetauscht wurden und fadenscheinige Argumentationen von Journalist*innen in wenigen Zeilen zerlegt wurden.
Irgendwann legte ich mir einen Account unabhängig von der Arbeit zu. Twitter kann emanzipatorisch sein, ist manchmal aber auch belastend. Du wirst überflutet mit schlechten Nachrichten, Nazis beobachten dich und im schlimmsten Fall doxxen sie dich, schicken dir Morddrohungen und Gewaltphantasien und weder Twitter noch die Politik macht was dagegen. Accounts von Schwarzen und insbesondere auch BIPoC-Frauen, werden aufgrund vieler Meldungen durch Nazis und Menschen, die sie nicht abkönnen, oft gesperrt und damit gehen Inhalte verloren, die progressiv, erfrischend und empowernd sind. Einige haben sich auch selbst abgemeldet, weil es zu viel wurde. Ohne sie sind wir schnell wieder bei dem ernüchternden Ort voller weiß-deutscher Journalist*innen. Offline-Hegemonien bleiben erhalten.
Inzwischen haben sich weiße Feminist*innen die Sprache Marginalisierter abgeguckt, verlangen genauso Geld für Wissen, das sie preisgeben und werden dafür so gefeiert, wie Marginalisierte gemeldet und gesperrt werden.
Die Encyclopaedia Almanica wirkt dem entgegen, in dem sie Stimmen abbildet, die sonst kaum gehört werden. Auf Twitter erzählen die sechs Autor*innen @hrmpfm, Ayesha Khan (@lieblingsuserin), Bahar Sheikh (@bahaarebahar), @mon_ferri, Hengameh Yaghoobifarah (@habibitus) und @zugezogenovic aus ihrem Alltag in der Migrationsgesellschaft, von Freundschaft und Depression, von Rassismus und Feminismus. Die Encyclopaedia Almanica macht ihre Gedanken sichtbar und verbreitet sie. Mal lustig, mal nachdenklich rütteln die Autor*innen an gängigen Sichtweisen auf bestimmte Sachverhalte und bieten neue Perspektiven auf den deutschen Status Quo. Ein einordnendes Vorwort und die Vorstellung der Autor*innen macht die Encyclopaedia Almanica auch für Menschen zugänglich, die keine Berührungspunkte mit Twitter haben. Sie ist ein notwendiges Korrektiv in der öffentlichen Debatte um Rassismus, Feminismus, Gesellschaft und Politik und soll Menschen, die sich mit den Inhalten identifizieren können, stärken.
Über die Herausgeberin Amina Aziz